Ist das hier noch Indien, frage ich mich manchmal. Die Straßen sauber, fast keine Kühe oder streunende Hunde, von Schweinen ganz zu schweigen. Die Landschaft grün, richtig tropisch, nur vereinzelte Wellblechhütten und meistens hübsche Häuser – viele mit Veranden und bunt angemalt. Und auf den Straßen überall Frauen.

Ja, Kerala ist anders. “God’s own country” wird es durch die Tourismusindustrie vermarktet. Die “indische Schweiz”, schießt es mir bei einer Busfahrt durch grüne Hügellandschaften an bunten Häusern vorbei, durch den Kopf. Gemeinsam haben beide jedenfalls die Sauberkeit, die schöne Landschaft und den Reichtum.
Viele soziale Indikatoren, wie Geburtenrate, Gesundheitsversorgung, Alphabetisierungsrate usw entsprechen den Werten von Industrieländern – und auch wenn die ökonomische Entwicklung nur bedingt mithalten kann, ist es doch offensichtlich, dass Kerala reicher als andere Bundesstaaten ist. Alle Leute, mit denen ich hier spreche, geben das gute Bildungssystem als Hauptursache an. Bildung hatte hier in vorkolonialen Zeiten einen hohen Stellenwert – auch für niedrigere Kasten und für Frauen. 1859 wurde die erste Schule für Mädchen in Indien gegründet.

Die gute Ausbildungsquote und die über Jahrhunderte gewachsene Verbindung mit den arabischen Raum führen auch dazu, dass viele Keralaner dorthin auswandern, wo es bessere berufliche Möglichkeiten und mehr Geld zu verdienen gibt. Es ist wie so oft bei derartigen Migrationsbewegungen – einerseits ein Brain- Drain (also Hirnschmalz, in das das Land investiert hat, welchen anderen Ländern zugute kommt), andererseits zeugen viele große private Häuser dass viel Geld aus dem arabischen Raum nach Kerala “zurückkehrt”. Die Gelder der Migranten aus Kerala in anderen Ländern, stellen ein Fünftel des Sozialprodukts dar und sind somit der wichtigste Wirtschaftsfaktor.
Kerala ist auch von der Natur gesegnet, man kann es nicht anders sagen. Das tropische Klima und die vielen Regionen auf mittlerer Höhe erlauben den Anbau von Tee, Kaffee, Kardamon, Vanille, Pfeffer und vielen anderen Gewürzen. Hier ist Vasco da Gama angekommen, als er endlich den Seeweg nach Indien gefunden hatte und es war nicht die pure Abenteuerlust, die ihn angetrieben hat, sondern handfeste ökonomische Interessen – der Handel mit den wertvollen Gewürzen war ein wichtiger Faktor.

Vor Vasco da Gama haben aber schon viele andere ihren Weg über das Meer an die süd-östliche Küste des Kontinents gefunden. Es gibt Hinweise auf eine jüdische Gemeinde vor Christi Geburt, und auch der hl. Thomas soll in Kerala gewesen sein und somit den Grundstein für frühe christliche Gemeinschaften gelegt haben. Die Region steht also schon seit vielen Jahrhunderten in Austausch mit verschiedensten Kulturen, was sicher kein Nachteil für die Entwicklung ist. Und so ist der Anteil der muslimischen und christlichen Bevölkerung weitaus höher als in anderen Bundesstaaten.

Kerala ist auch eine wichtige Tourismusdestination. Obwohl es einer der kleineren Bundesstaaten ist, steht es bei den Statistiken ganz oben auf der Liste. Neben den vorhandenen natürlichen natürlichen Ressourcen liegt dieser Erfolg wohl auch die massive Vermarktung ab den 1980er Jahren als “God’s own country”. Zahlreiche Ökotourismusinitiativen versuchen eine positive Entwicklung von Umwelt und Gesellschaft zu fördern und haben auch einige internationale Preise dafür bekommen. Die tourismuskritische Organisation Equations zeigt hingegen die negativen Aspekte des Tourismus in Kerala auf.

Welchen Anteil an Entwicklung Keralas die kommunistischen Regierungen haben , die seit 1957 regelmäßig demokratisch gewählt werden? Ich traue mich nicht, es abzuschätzen. Die Landreformen der 1960er und 70er Jahre, welche den Großgrundbesitz stark zurückgedrängt haben, hatten jedoch sicher einen bedeutenden Anteil. Unser Bootsführer bei einem Ausflug in die Backwaters führt auch an, wie gut hier alle gewerkschaftlich und in den Dörfern organisiert seien und Streiks scheinen sehr üblich zu sein. Die kommunistische Partei ist jedenfalls überall präsent, sei es durch Fahnen, Plakaten, Demonstrationen oder Che Guevara Bildern in den Busstationen.
Auch in Kerala werde ich angebettelt, sehe ich schäbige Hütten ohne Einrichtung und Obdachlose. All dies jedoch in einen viel geringeren Ausmaß als in anderen Regionen und die Menschen sind auffallend freundlicher und hilfsbereiter – was wohl auch kein schlechter Indikator ist.